Reformations-Jubiläen – Ein Streifzug durch die Jahrhunderte
13. сентябрь 2017 12:33
Wenn wir heute an den Beginn der Reformation denken, dann steht vor unserem geistigen Auge der einsame Luther, der seine Thesen an die Tür der Schlosskirche von Wittenberg nagelt. Ein historisch durchaus fragwürdiges Bild, denn in dem äußerst umfangreichen Werk Luthers gibt es genau zwei Stellen, die sich auf diese Thesen beziehen.
Wir wissen, dass er sie seinem Brief vom 31. Oktober 1517 beilegte, in dem er Erzbischof Albrecht von Magdeburg-Mainz aufforderte, den Dominikanermönch Johann Tetzel daran zu hindern, weiterhin Ablassbriefe zu verkaufen.
Luther erwähnt sie ferner in einem 10 Jahre später an einen Freund geschriebenen Brief, in dem er berichtet, dass er in einer kleinen privaten Feier auf die 10 vergangenen Jahre seit der „Niedertretung des Ablasses“ angestoßen habe.
Verantwortlich dafür, dass dieser Thesenanschlag als Beginn der Reformation gilt, ist Philipp Melanchthon, der auch sonst Theologie und Selbstverständnis der Lutheraner fast tiefer geprägt hat als Luther selbst. Melanchthon verfasste ein Jahr nach Luthers Tod dessen Lebensbeschreibung. Darin schreibt er: „Veranlasst durch Tetzels Ablassvertrieb gab Luther Thesen über die Ablässe heraus und heftete diese öffentlich an der Allerheiligenkirche am 31. Oktober 1517 an.“
1617 jährte sich das Ereignis zum 100. Mal. Doch dass daraus ein Jubiläum wurde, verdankt sich der Tatsache, dass der (reformierte) Pfalzgraf bei Rhein und der (protestantische) Kurfürst von Sachsen darum konkurrierten, wer die protestantischen Stände anführen sollte.
Durch sein Bekenntnis zu Luther wollte Friedrich V., der spätere Winterkönig, die Tatsache überspielen, dass die Reformierten die Confessio Augustana nicht angenommen und so dem Augsburger Religionsfrieden fern geblieben waren.
Johann Georg I. von Sachsen dagegen, der bei den kompromisslosen Protestanten wegen seiner Duldsamkeit gegenüber dem katholischen Kaiser an Ansehen verloren hatte, hob die traditionelle Führungsrolle Sachsens als „Mutterland der Reformation“ hervor.
Die Konkurrenz zwischen den reformierten und den protestantischen Fürsten um die wahre Nachfolge Luthers sorgte dafür, dass die erste 100-Jahrfeier des Thesenanschlags an vielen Orten feierlich mit einem dreitägigen Fest vom 31. Oktober bis zum 2. November begangen wurde.
Die Feiern selbst waren ein Balance-Akt, denn die Stimmung war gespannt. Kein Protestant wünschte, dass seine Feier einen Krieg auslöste. Deshalb hielt man sich bei Predigt und Zeremoniell zurück.
Nichtsdestotrotz war das Jubiläum für die protestantische Eigen- und Fremdwahrnehmung von enormer Bedeutung. Es kam so gut an, dass die Katholiken ihrerseits die Idee kopierten. So feierten zum Beispiel die Jesuiten im Jahr 1640 die 100. Wiederkehr ihrer Ordensgründung.
1717 jährte sich der Thesenanschlag zum 200. Mal. Vor allem die Sachsen hatten mit dieser Feier ein Problem. Denn August der Starke war 1697 zum katholischen Glauben übergetreten. Zwar hatte er im so genannten Religionsversicherungsdekret seinen Untertanen zugesichert, dass sie ihre Religion würden behalten können, doch die Feierlichkeiten mussten ohne den sächsischen Kurfürsten auskommen. Nichtsdestotrotz gab Friedrich August bei seinem Hofmedailleur offizielle Medaillen in Auftrag, die weniger die Reformation als vielmehr die sächsischen Kurfürsten als deren Beschützer feierten.
Das lag im Trend. Wir befinden uns mittlerweile im Zeitalter der Aufklärung. Religion und Gott wurden gerne eingesetzt, um die Unterwerfung unter den absolutistischen Herrschers zu fordern.
Auch 1717 wollten die protestantischen Stände mit ihren Feierlichkeiten die Katholiken nicht provozieren. Oder, wie der Prorektor der Universität Halle an die zuständigen Prediger schrieb, man entschied sich, die Feierlichkeiten „ohne Aufmachung, Pomp und die Sinne fesselnde Kunst“ zu feiern.
Der Papst dagegen war mittlerweile so unwichtig geworden, dass man ihn anklagen konnte. So kreisten zahlreiche Predigten um Luther als den neuen Moses, der die Frommen aus der Knechtschaft des Pharaos (= des Papstes) führte. Rom wurde zum neuen Babylon und der Papst zum Vorläufer des Antichristen.
Das dritte Reformationsjubiläum am 31. Oktober 1817 stand unter völlig anderen Vorzeichen. Gerade hatte man die französische Armee aus Deutschland vertrieben. Natürlich wurde Luther als Vorzeige-Deutscher von der Nationalbewegung vereinnahmt.
Ein Beispiel dafür ist der Dichterfürst Goethe. Er schlug vor, das Reformationsjubiläum auf den 18. Oktober 1817 vorzuverlegen, um es zusammen mit dem 4. Jahrestag der Völkerschlacht von Leipzig zu feiern. Denn die Konfessionen würden sowieso der Vergangenheit angehören: „Es (= das Reformationsjubiläum) wird von allen Glaubensgenossen gefeiert und ist in diesem Sinne noch mehr als ein Nationalfest: ein Fest der reinsten Humanität. Niemand fragt, von welcher Konfession der Mann des Landsturms sei, alle ziehen vereiniget zur Kirche und werden von demselben Gottesdienste erbaut; alle bilden einen Kreis ums Feuer und werden von einer Flamme erleuchtet. Alle erheben den Geist, an jenen Tag gedenkend, der seine Glorie nicht etwas nur Christen, sondern auch Juden, Mahometanern und Heiden zu danken hat.“
Auch wenn, wie von Goethe gefordert, am 18. Oktober 500 nationaldeutsch gesinnte Studenten auf die Wartburg zogen, feierte das offizielle Deutschland das Jubiläum wie bisher am 31. Oktober.
Und jeder nutzte Luther für seine Zwecke: Friedrich Wilhelm III. von Brandenburg-Preußen verkündete die lange geplante kirchliche Union von Lutheranern und Reformierten, (die Luther sicher unterstützt hätte). Die Traditionalisten feierten Luther als bedeutenden Konservativen, der die Bibel und ihre Gebote bewahrt hatte. Und die Pietisten sahen in Luther den großen Missionar, der wie sie hinausging, um das Evangelium zu predigen.
1817 fand das Reformationsjubiläum erstmals internationale Aufmerksamkeit. Es wurde vor allem in den Vereinigten Staaten von den vielen ausgewanderten Protestanten begangen, die sich so ein Stück Heimat und Identität bewahrten.
Lutherdenkmal zu Worms. Das größte Reformations-Denkmal. Postkarte des Jahres 1903
1817 wurde das erste einer Vielzahl von Reformationsjubiläen, die im 19. Jahrhundert begangen wurden. Hatte in den Jahrhunderten vorher Kirche und Staat die Führungsrolle übernommen, waren es jetzt bürgerliche Festkomitees und Vereine, die Umzüge durchführten, Geld für Statuen sammelten und die Stadt schmückten. Luther mutierte zum Inbegriff des deutschen Bürgers und Patrioten.
Im Frühsommer 1914(!), kurz vor Ausbruch des ersten Weltkrieg, plante man anlässlich der 400-Jahrfeier der Reformation ein internationales Fest in Deutschland, zu dem protestantische Vertreter aus USA, Kanada, Australien und den europäischen Nationen anreisen sollten.
Es kam nicht mehr dazu. Während des 1. Weltkriegs hatte man anderes zu tun.
Man nutzte Luther für die deutschnationale Propaganda. Der Historiker Heinrich von Treitschke prägte für Generationen das Lutherbild mit seiner These, der Reformator habe die deutsche Einigung vorweggenommen. Bismarck sei Luthers kongenialer Nachfolger. Nur der Deutsche könne Luther verstehen, weil der das Innerste des deutschen Volkes verkörpere.
Das tut Luther selbstverständlich nicht. Der Reformator ist und bleibt ein Kind seiner Zeit, dessen Ideen über seine Epoche hinauswirkten. Er ist eine Projektionsfläche für Ideen, die aus seinem Namen Autorität ziehen wollen.
Es bleibt die Frage, ob wir im Reformationsjubiläum von 2017 dem historischen Luther näher kommen, oder ob wir ihn einmal mehr zum Protagonisten unsere eigenen Vorstellungen machen.